Von der Komplizenschaft zur Aufarbeitung
Prof. Frank Schneider über die Rolle der Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus
Mit der Veranstaltung „Psychiatrie im Nationalsozialismus“ setzte das kbo-Inn-Salzach-Klinikum ein klares Zeichen für historische Verantwortung und gegen das Vergessen. Über 100 Gäste verfolgten im Festsaal den Vortrag des renommierten Psychiaters Prof. Dr. Dr. Frank Schneider, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Der Ärztliche Direktor des Klinikums, Prof. Dr. med. Peter Zwanzger, eröffnete die Veranstaltung mit einer klaren Einschätzung über Schneiders Relevanz zu diesem bewegenden Thema: „Dieser Vortrag ist ein Höhepunkt in unserer Veranstaltungsreihe. Professor Schneider ist ein Psychiater, der sich wie kein anderer mit der Psychiatrie in der NS-Zeit befasst hat.“
In seinem Vortrag stellte Schneider eindringlich klar: Die Schuld der Psychiatrie sei kein singuläres Phänomen der Nationalsozialisten, sondern begann bereits weit vor 1933 mit der argumentativen Wegbereitung damals namhafter Mediziner wie Alfred Hoche, Leiter der psychiatrischen Anstalt von Freiburg, und reichte über die NS-Zeit hinweg bis in die Nachkriegsjahre. Er erinnerte daran, dass das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ auf regulärem gesetzlichem Weg durchgesetzt wurde – mit verheerenden Folgen. „40.000 Menschen wurden zwangssterilisiert, 5.000 starben an den Folgen.“
Die DGPPN und ihre Vorgängerorganisationen hätten nicht nur weggeschaut, sondern das System mitgestaltet. Viele führende Psychiater waren direkt an den „Euthanasie“-Verbrechen des T4-Programms beteiligt. „Entscheidungen wurden aufgrund des Wertes eines Menschen getroffen, der sich anhand von Heilbarkeit, Bildungs- und Arbeitsfähigkeit der Patienten bemaß.“, so Schneider. Dabei stellte er eindringlich klar: „Kein Arzt darf jemals den Wert eines Menschen bemessen!“
Nach dem Krieg habe es lange Zeit kein ehrliches Bekenntnis zur Schuld gegeben. Täter blieben vielfach in Amt und Würden, psychisch Kranke wurden nicht als NS-Opfer anerkannt, Entschädigungen verweigert. „Die Sterblichkeitsrate war vielerorts noch nach 1945 überdurchschnittlich – Patienten wurden also auch danach noch vermeintlich Tod preisgegeben.“
Aufarbeitung in der Fachgesellschaft
Erst in den 1980er-Jahren begann eine ernsthafte Aufarbeitung. Ein bedeutender Schritt erfolgte 1999 mit der Ausstellung „In Memoriam“ auf dem Weltkongress der World Psychiatric Association in Hamburg, die die Verbrechen der Psychiatrie während des Dritten Reiches thematisierte. Im Jahr 2009 bekannte sich die DGPPN im Rahmen einer Satzungsänderung zu ihrer besonderen Verantwortung, die ihr aus der Beteiligung ihrer Vorläuferorganisationen an den Verbrechen des Nationalsozialismus erwächst. Daraufhin wurde eine unabhängige Historikerkommission eingesetzt, um die Rolle der Fachgesellschaft und ihrer Mitglieder während der NS-Zeit umfassend zu untersuchen.
Ein zentrales Ergebnis dieser Aufarbeitung war die Gedenkveranstaltung am 26. November 2010 während des DGPPN-Kongresses in Berlin. Vor rund 3.000 Teilnehmern bat Prof. Schneider als damaliger DGPPN-Präsident die Opfer und deren Angehörige um Verzeihung für das Leid und Unrecht, das ihnen im Namen der deutschen Psychiatrie angetan wurde. Als weitere Konsequenz wurden 2011 die posthumen Ehrenmitgliedschaften von Friedrich Panse und Friedrich Mauz aberkannt, die als Gutachter aktiv an der „Aktion T4“ beteiligt waren.
Würde zurückgeben – Dialog ermöglichen
In der abschließenden Podiumsdiskussion unterstrich Prof. Schneider: „Es ist wichtig, die Namen zu präsentieren und den Opfern so die Würde zurückzugeben. Das ist für mich das A und O.“ Wolfgang Schmid, Leiter des Psychiatriemuseums, stimmte ihm zu: „Mein Vater musste die Patienten zu den Zügen begleiten. Darüber hat er daheim nie gesprochen. Das hat mich erschüttert. Wenn man sich mit Namen und persönlichen Geschichten auseinandersetzt, hat das auf einmal eine ganz andere Qualität.“
Die besondere Art der Betroffenheit, die aus der Nachvollziehbarkeit individueller Schicksale entsteht, war auch für Peter Rink, ehemaliger Schulleiter am Wasserburger Gymnasium, ein zentraler Aspekt gelingender Erinnerungskultur. „Zeitzeugen helfen, die Betroffenheit zu bewahren – aber sie werden unweigerlich weniger. Wir müssen daher neue Wege finden.“ Dr. Bettina Keß, Kunsthistorikerin beim Bezirk Oberbayern, forderte Gedenkformen, die in den Dialog mit Angehörigen und der Gesellschaft treten: „Es gibt kein ‚one fits all‘ bei Denkmälern. Man muss von den Inhalten ausgehen und möglichst viele Menschen einbeziehen.“
Nächste Veranstaltung am 2. Juni
Das kbo-Inn-Salzach-Klinikum versteht das Gedenken nicht als Pflichtübung, sondern als Teil seiner aktiven Verantwortung für Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Im Rahmen der diesjährigen Veranstaltungsreihe findet der nächste Vortrag mit Bezirksarchivar Nikolaus Braun am 2. Juni, um 16:00 Uhr in der Ärztebibliothek des kbo-Inn-Salzach-Klinikums statt. Dabei wird Braun auch auf die Verhältnisse in Gabersee und die Haltung des damaligen Anstaltsleiters Dr. Friedrich Utz zu den Krankenmorden eingehen.