„Angst ist kein guter Ratgeber – aber ein verständlicher Reflex“
Die Zahl der Gewalttaten in Deutschland sorgt für Verunsicherung. Im Interview spricht Prof. Dr. med. Peter Zwanzger, Ärztlicher Direktor am kbo-Inn-Salzach-Klinikum, darüber, warum das Sicherheitsgefühl nicht immer mit der Statistik übereinstimmt – und weshalb wir lernen müssen, mit Angst und Widersprüchen konstruktiv umzugehen. Ein Gespräch über Wahrnehmung, Wirklichkeit und den Einfluss öffentlicher Debatten auf unsere Psyche.
Warum haben viele Menschen das Gefühl, dass es unsicherer wird, obwohl die Kriminalität in vielen Bereichen sinkt?
Das hat vor allem mit der menschlichen Wahrnehmung und der Art, wie unser Gehirn Gefahren einschätzt, zu tun. Unser Gehirn ist seit Urzeiten darauf ausgelegt, Bedrohungen besonders stark zu gewichten, um unser Überleben zu sichern. Dazu kommt die mediale Berichterstattung: Wir werden tagtäglich mit negativen Nachrichten konfrontiert, was den Eindruck entstehen lässt, dass die Welt unsicherer wird. Ein einzelnes Gewaltverbrechen bekommt oftmals medial sehr viel Aufmerksamkeit und wirkt ganz individuell auch bildhafter auf uns. Dadurch spielt es in unserer Wahrnehmung eine größere Rolle als zum Beispiel die eher nüchterne, zahlengetriebene Berichterstattung über die sinkenden Kriminalitätsstatistiken.
Warum fühlen sich manche Menschen unsicherer als andere, obwohl sie denselben Lebensraum teilen?
Unser Sicherheitsgefühl ist etwas sehr Individuelles. Es hängt stark von persönlichen Erfahrungen, der eigenen Biografie und sogar genetischen Faktoren ab. Das erklären Frau Prof. Katharina Domschke und ich auch in unserem neuen Buch „Das Alphabet der Angst“. Wer bereits einmal Opfer von Kriminalität geworden ist oder eine ängstlichere Grundpersönlichkeit hat, wird sich schneller unsicher fühlen. Auch das soziale Umfeld spielt eine Rolle: Menschen, die ein starkes soziales Netz haben, fühlen sich oft sicherer als jene, die sich isoliert fühlen.
Gibt es Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Gebieten, was das Sicherheitsgefühl angeht? Falls ja, warum?
Ja, die gibt es tatsächlich. In ländlichen Gebieten kennen sich die Menschen oft besser, es gibt eine engere soziale Vernetzung, und das trägt zu einem größeren Sicherheitsgefühl bei. In Städten hingegen sind Menschen häufiger anonym unterwegs, was dazu führen kann, dass sie sich unsicherer fühlen. Außerdem sind in vielen Städten Kriminalität oder soziale Unruhe eher sichtbar als in Dörfern, was das Unsicherheitsgefühl verstärken kann. Dies entspricht der Broken Windows Theory von Wilson und Kelling, die besagt, dass schon kleine Anzeichen von Verfall und Kriminalität in städtischen Gebieten – wie etwa zerbrochene Fenster, unaufgeräumte Straßen oder Leerstand – das Gefühl der Unsicherheit verstärken können.
Warum scheinen Menschen Kriminalität oft als „schlimmer als früher“ wahrzunehmen, selbst wenn Statistiken eine andere Entwicklung zeigen?
Typischerweise ist es so, dass Ereignisse, die uns besonders präsent sind – sei es durch Medien oder eigene Erlebnisse – unser Urteil beeinflussen. Zudem neigen wir dazu, die Vergangenheit positiver zu erinnern als sie wirklich war. Und die mediale Berichterstattung ist heute natürlich viel intensiver als früher. Zugespitzt gesagt: Früher gab es keine Soziale Medien, in denen Informationen oftmals ungefiltert überdramatisiert werden und vor allem zu jeder Tag- und Nachtzeit für alle verfügbar sind. Dadurch kann das Gefühl entstehen, dass die Welt gefährlicher geworden ist, auch wenn objektive Zahlen etwas anderes sagen.
Helfen Überwachungskameras, Polizeipräsenz oder strengere Gesetze tatsächlich dabei, das Sicherheitsgefühl zu verbessern?
Mit Einschränkungen. Wenn Menschen sichtbare Sicherheitsmaßnahmen wie mehr Polizei oder Überwachungskameras wahrnehmen, kann das ihr subjektives Sicherheitsgefühl verbessern. Allerdings gibt es auch einen paradoxen Effekt: Wenn zu viele solcher Maßnahmen präsent sind, kann das wiederum das Gefühl erzeugen, dass eine große Gefahr besteht. Es muss also ausgewogen agiert werden, so sind sichtbare Sicherheitsmaßnahmen wie auch soziale Präventionsarbeit gleichermaßen wichtig.
Was können Städte oder Kommunen tun, um das Sicherheitsgefühl zu stärken – unabhängig von der tatsächlichen Kriminalitätslage?
Ich kann mir gut vorstellen, dass die Gestaltung des öffentlichen Raums eine Rolle spielt. Gut beleuchtete, gepflegte Straßen und Plätze vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Auch die Stärkung sozialer Strukturen ist entscheidend: Nachbarschaftsprojekte, bürgerschaftliches Engagement und Präventionsarbeit können dazu beitragen, das Sicherheitsgefühl der Menschen zu erhöhen. Ebenso ist eine offene und transparente Kommunikation zwischen Stadtverwaltung, Polizei und Bürgern wichtig, um Vertrauen zu schaffen und Unsicherheitsgefühle abzubauen.